Die drei Himmelsleitern im Kirchsaal von Kleinmachnow
Wer den Kirchsaal im neuen Gemeindehaus zum ersten Mal betritt, ist beeindruckt vom großzügigen, hellen Innenraum. Die Dachkonstruktion mit dem charakteristischen Tragwerk aus Holz lenkt den Blick nach oben zum Lichtband. Dort wird über den gesamten Dachfirst der Himmel sichtbar.
Erst auf den zweiten Blick entdeckt man die drei Stoffbanner zwischen den Dachsparren, ein rotes und ein blaues auf der Straßenseite und ein grünes gegenüber. Das textile Triptychon scheint mit der Architektur zu verschmelzen. Farbige Bögen, zusammengesetzt aus vielen winzigen Stoffstückchen schwingen tänzelnd hinauf zum Dachfirst wie drei Himmelsleitern. Sie lenken den Blick nach oben zum Licht und verbinden den Besucher mit der Schöpfung. Damit unterstützen sie die architektonische Aus- sage des Raumes. Zudem nimmt die schlichte Bogenform - stark stilisiert - Bezug auf die seit dem Mittelalter in Wand- und Deckengemälden alter Kirchen verwendeten Akanthusranken und orientiert sich am historischen Kontext sakraler Innenräume als zeitgenössische Abstraktion. Die Stoffbanner, entworfen von der Künstlerin Anke Mühlig sind jeweils 7 m lang und 75 cm breit.
Im Gottesdienst oder beim Konzert wandern die Blicke nicht selten an den Himmelsleitern empor und mit ihnen die Gedanken. Die einzelnen Stoffstücke, gespendet von Kleinmachnowern und Menschen, die dem Ort verbunden sind, erzählen nämlich ihre ganz persönlichen Geschichten.
Stoff mit Geschichte – ein Kunstprojekt für die Gemeinde
Als nach Jahren der Planung mit teils kontroversen Debatten endlich mit dem Bau des neuen Gemeindehauses mit Kirchsaal begonnen werden konnte, initiierte Pfarrerin Elke Rosenthal zusammen mit der Künstlerin Anke Mühlig ein Kunstprojekt, bei dem den KleinmachnowerInnen die Möglichkeit gegeben wurde, an der Innengestaltung des neuen Kirchsaals mitzuwirken. Alle Bürgerinnen und Bürger Kleinmachnows - unabhängig von der Zugehörigkeit zur Kirchengemeinde - waren eingeladen einen Stoff zu spenden, der eine persönliche Erinnerung trägt.
Aus den gesammelten Stoffen sollte ein gemeinsames großes Textilbild für den neuen Kirchsaal entstehen. Die dazugehörigen Geschichten wurden auf diese Weise mitgenommen in das neue Haus. Neun Kleinmachnowerinnen nähten im Atelier der Künstlerin monatelang gemeinsam an dem Triptychon. Ein kleines Video dokumentiert die Herstellung der Himmelsleitern. Sie finden es hier.
Die Künstlerin
Anke Mühlig, Jahrgang 1957, ist in den USA, Schweden und Deutschland ausgebildet und lebt heute als freischaffende Künstlerin in Kleinmachnow. In ihrem Atelier KOKONEN entstehen textile Bilder und Kalligraphien auf Stoff. Sie gibt Kurse in Textilgestaltung und verknüpft dabei die Kenntnis von alten textilen Techniken mit neuen technischen Möglichkeiten. http://www.anke-muehlig.de
Die Stoffgeschichten
Aus den unterschiedlichsten Stoffen, gewebt, gestrickt oder geknüpft, jeder mit seiner eigenen Geschichte, entstand eine textile Chronik der Menschen und des Lebens miteinander in den vergangenen 80 Jahren in Kleinmachnow. Ein Fragment ist sogar mehrere hundert Jahre alt und ist Teil einer Fahne der Familie von Hake aus der Dorfkirche. Gleichwohl stammen nicht alle Stoffe aus dem Ort, aber ihre Geschichten beziehen sich auf ihn und alle Fäden laufen hier zusammen. Von historischer Relevanz ist beispielsweise auch das rote Stoffband, das zwischen Maueröffnung und feierlicher Wiedervereinigung von Kleinmachnow und Berlin vorübergehend noch die Welten trennte. Von den dunkelsten Stunden unserer Geschichte erzählt ein Kinderkleidchen, das zurückblieb, als die Freundin und ihre ganze Familie eines Nachts nach Auschwitz deportiert wurden.
Andere Textilien, die zunächst alltagsbanal scheinen mögen, sind doch schon sozialgeschichtliche Dokumente: Wer legt noch all- abendlich eine handgestickte Tischdecke auf den Tisch, um mit der versammelten Familie den Feierabend gemeinsam zu verbringen, Abendbrot essend, Karten spielend, erzählend? Und wer hat noch ein Einkaufsnetz in der Jackentasche, allzeit bereit für Besorgungen, wenn etwas selten Erhältliches im Angebot ist? Wieder andere Stoffgeschichten erinnern an fröhliche Familienfeste, wie Hochzeit und Taufe oder an berufliche Aufgaben, wie die robuste Arbeitshose des Gärtners oder die signalfarbige Jacke des Notarztes. Zusammengetragen wurde ein buntes Kaleidoskop gelebter Geschichte dieses kleinen Ortes in Deutschland, an dem sich die Geschehnisse des zweiten Weltkrieges, der DDR-Zeit, der Wiedervereinigung und des Zusammenwachsens dieses geteilten Landes in den Familiengeschichten spiegeln. Geschichten von Alteingesessenen werden ergänzt durch Erlebnisse von Neuzugezogenen und in vielen Erzählungen spielt diese Einteilung schon längst keine Rolle mehr. So sind die Stoffgeschichten auch ein Stück hoffnungsvolle europäische Vision, in einer Zeit, in der es vornehmlich um Abgrenzung und Individualisierung zu gehen scheint.
Das Buch
Die Geschichten der Himmelsleiterstoffe, zusammengetragen von Anke Mühlig und Pfarrerin Elke Rosenthal, sind 2018 als Zeitzeugendokument zusammen mit farbigen Abbildungen aller Kleidungsstücke (Fotos: Kerstin Baier) in Buchform erschienen.
Stoffgeschichten - Drei Himmelsleitern für Kleinmachnow
Anke Mühlig, Kerstin Baier, Elke Rosenthal
ISBN 978-3-00-060871-1
Das Buch kostet 29,90 € und ist zu beziehen über die Evangelische Auferstehungskirchengemeinde Kleinmachnow
(per E-Mail: buero
Das Projekt „Stoff mit Geschichte“ wurde gefördert durch die Stiftung ‚Missionarischer Aufbruch‘ und die Stiftung ‚Kirche im Dorf‘.
Der Druck des Buches mit den Stoffgeschichten konnte realisiert werden durch eine Anschubfinanzierung der Gemeinde Kleinmachnow und eine großzügige private Spende.